"Um 4 Uhr 25 nachmittags, heute, am fünften März, ist Präsident Hugo Chávez Frías verstorben."
Mit tränenerstickter Stimme gab Vizepräsident Nicolás Maduro dies am Dienstag bekannt. Vor wenigen Tagen hatte er angekündigt, dass Hugo Chávez um sein Leben kämpfe und die Bevölkerung aufgerufen, für ihn zu beten. Im Militärkrankenhaus von Caracas wurde ein kleiner Altar aufgestellt, und viele Venezolaner strömten herbei, um ihr Mitgefühl auszudrücken. In den Straßen von Caracas kam es zu spontanen Kundgebungen seiner Anhänger.
Seit Langem war sein Tod erwartet worden. Die Interimsregierung tat alles, um seinen wirklichen Gesundheitszustand zu verschleiern. Schließlich wurde immerhin mitgeteilt, dass er die Stimme verloren, aber neue Wege der Kommunikation gefunden habe. Dann holte die Regierung den Todkranken endlich heim nach Venezuela. Die Kubaner wollten nicht, dass er in Havanna stirbt, wo er zwei Jahre lang medizinisch betreut und viermal operiert worden war. Seither wurde die Öffentlichkeit auf das Schlimmste vorbereitet.
Kurz vor Mitternacht unserer Zeit gaben die Ärzte den monatelangen Kampf um sein Leben verloren. Die Regierung versetzte Polizei und Armee in Alarmbereitschaft: Es hatte schließlich schon einmal, 2002, einen Putschversuch gegen ihn gegeben - getragen von Teilen des Militärs. Jetzt wurde erneuter Aufruhr befürchtet. Aber bislang ist es ruhig im Land. Sieben Tage lang soll Venezuela um einen der ungewöhnlichsten Präsidenten seiner Geschichte trauern. Dann wird es endlich die seit Langem fälligen Neuwahlen geben und ein anderes Kapitel venezolanischer Politik beginnen. Auch die Opposition zeigte Trauer. Ihr Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles schreibt in einer Twitter-Nachricht:
"Meine Solidarität mit der ganzen Familie und den Anhängern von Präsident Hugo Chávez. Wir plädieren für die Einheit aller Venezolaner."
Chávez hat die politische Landschaft Venezuelas für immer verändert. Er war 1998 gewählt worden, als Erneuerer, denn die Bevölkerung hatte jegliches Vertrauen in die politische Klasse verloren. Die beiden herrschenden Parteien hatten das Land quasi unter sich aufgeteilt und betrachteten seine Reichtümer als einen Selbstbedienungsladen. Mit dem Oberstleutnant der Fallschirmjäger betrat eine völlig neue Figur die politische Bühne. Dem Sohn eines Dorfschullehrers war die Bürokratensprache völlig fremd. Er verwendete die einfache Ausdrucksweise der Mehrheit der Bevölkerung, gab ihr das Gefühl einer der ihren zu sein, und vor allem ein Politiker, der sich ihrer Sorgen annahm. Dafür liebten ihn viele Venezolaner. Zunächst schuf er 1999 mit einer Verfassungsreform die Voraussetzung für die gesellschaftliche Veränderung, wie sie ihm vorschwebte. Hugo Chávez:
"In unserer neuen Verfassung gehen wir über das formale Konzept von Demokratie hinaus. Wir haben zwei wichtige Teile hinzugefügt: eine soziale Komponente und die Beteiligung des Volkes, etwas ganz Essenzielles für eine Demokratie. Unsere Verfassung – davon bin ich überzeugt – ist eine der fortschrittlichsten der Welt, eine partizipative Verfassung."
Sie stärkte unter anderem die Rechte der Frau und betonte die Gleichberechtigung indigener Völker. Kostenlose Bildung und medizinische Versorgung wurden garantiert. Gesundheitswesen, Schulsystem und Sozialversicherungen durften nicht privatisiert werden. Das Sozialprogramm konnten selbst scharfe Gegner von Chávez akzeptieren. Der Publizist Teodoro Petkoff:
"Das ist das Einzige, was ich von Chávez anerkenne. Er hat die soziale Frage zum großen venezolanischen Thema gemacht. Alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und selbst die sportlichen Kreise sind heute davon überzeugt, dass der Kampf gegen die Armut die Hauptaufgabe ist."
Präsident Chávez hat sich in den 14 Jahren seiner Regierung mit unzähligen Maßnahmen dafür eingesetzt. Organisiert wurden sie mithilfe sogenannter Missionen wie zum Beispiel Barrio Adentro für die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung in den Armenvierteln. Hilfe leisteten auch etwa 13.000 Kubaner: als Ärzte und beim Pflegepersonal. Venezolanische Mediziner waren für diese Aufgabe nicht zu gewinnen.
Heute gibt es gut zwei Dutzend verschiedene Missionen: für die Rechte der indigenen Bevölkerung, für die Alphabetisierung, für die Eingliederung Arbeitsloser, für Fortbildung, für Energiesparen, für den Umzug aufs Land, für die Entwicklung der Getreideproduktion und für den Wohnungsbau.
Keine andere Regierung Lateinamerikas hat so viel in ihre Sozialprogramme investiert wie die venezolanische. Genaue Zahlen existieren nicht, denn die Budgets der Missionen gehören nicht zum Staatshaushalt. Sie werden aus den Gewinnen von PDVSA gespeist, dem größten lateinamerikanischen Erdölproduzenten, und dessen Etat ist wenig transparent. Kenner halten es für möglich, dass bisher 60 Milliarden US-Dollar in die unterschiedlichsten sozialen Maßnahmen geflossen sind. Allerdings ist ein Ölkonzern nur bedingt als Sozialministerium geeignet. Die Soziologin Margaríta López Maya:
"Die Missionen waren tatsächlich gut gedacht. Sie hätten aber institutionalisiert, auf eine rechtliche Grundlage gestellt und mit einem festen Etat versehen werden müssen. Bis heute hängt das Budget der Missionen jedoch von der Entwicklung des Ölpreises auf dem Weltmarkt ab. In Zeiten der Krise wie 2008 wird es gekürzt, und dann kommt es beispielsweise zu Versorgungsengpässen bei den Grundnahrungsmitteln für die Armen. Die Missionen waren aber auch von den politischen Launen des Präsidenten abhängig. Was als hervorragendes Sozialprogramm konzipiert war, wurde von ihm oft als politische Waffe vor Wahlen eingesetzt, diente also einer Klientelpolitik."
Die Millionen von Venezolanern, die in den Genuss dieser Maßnahmen kamen, interessierte das nicht. Sie gehören zu den engsten Anhängern der Regierung und sind leicht zu mobilisieren. Zumal Chávez – anders als seine Vorgänger – viele seiner Versprechungen auch wirklich eingehalten hat. Sie waren Teil eines großen weitreichenden Programms, das er "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" nannte.
"Sozialismus bedeutet Macht für das Volk. Damit hier Sozialismus herrscht, müssen wir die Wirtschaftsstrukturen Venezuelas verändern und die Produktionsmittel verstaatlichen. Nur so können die Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit geschaffen werden, damit es in Venezuela kein Elend, keine Armut, keine Unsicherheit mehr gibt."
Dieses Programm war eine indirekte Folge des Putsches gegen ihn im Jahr 2002. Eine Reihe von Unternehmern und Politikern, die von den USA und Teilen der Armee unterstützt wurden, versuchten damals, den immer einflussreicher werdenden Präsidenten Chávez zu beseitigen. Dieser Anschlag radikalisierte seine Politik, führte zur Konzeption eines sozialistischen Programms und verstärkte seine Feindschaft gegen "das Imperium" – wie er die Vereinigten Staaten gern titulierte.
Damit begann auch eine massive Verstaatlichungspolitik in einer ganzen Reihe von Industrien. Hunderte von Unternehmen wurden enteignet und meist nur "nach Marktwert" entschädigt: Banken, Betriebe der Energieversorgung, des Einzelhandels, der Bau- und der Landwirtschaft, des Tourismus und anderes mehr. Viele dieser Unternehmen wurden inzwischen geschlossen. Das hat zu dramatischen Engpässen in der Wirtschaft geführt, beispielsweise bei der Energieversorgung und besonders in Zeiten der Dürre wie auch in diesen Tagen wieder.
Ein anderes Problem war sein autoritärer Führungsstil, seine Beratungsresistenz, sein Umgang mit der Opposition und mit den Medien. Kritik hatte in seiner doch angeblich "partizipativen" Demokratie keinen Platz. Sie wurde systematisch bekämpft: Wer regierungskritische Sendungen verbreitete, verlor sehr schnell die Lizenz – wie es mit RCTV, einem populären Unterhaltungssender, geschah. Heute gibt es mit ‘Globovisión’ nur noch einen Fernsehkanal, der sich eine kritische Berichterstattung erlauben darf. Teodoro Petkoff:
"Mir hat der autoritäre Stil von Chávez, der sich schon früh angedeutet hat, nie gefallen. Er hat seinen autoritären Charakter auch nie verborgen, diese diktatorischen Züge, die allmählich unübersehbar wurden. Das passte nicht zu meiner Vorstellung von gesellschaftlichem Wandel, denn der ist für mich mit einer starken demokratischen Komponente verbunden. Die habe ich bei Chávez nie feststellen können. Ich sah in ihm eine Bedrohung der Demokratie."
Seine Anhänger scheint das kaum gestört zu haben. Sie schätzen andere Werte an ihm, beispielsweise seine politische Vision. Er empfand sich zwar auch als ein Erbe der kubanischen Revolution, sah in Fidel Castro so etwas wie einen politischen Ziehvater, doch sein eigentliches Leitbild war Simón Bolívar. Er hatte im 19. Jahrhundert Venezuela und die meisten Andenländer vom spanischen Joch befreit, und als erster Staatsmann die Vision von der Einheit Südamerikas verfolgt. Davon träumte auch Hugo Chávez:
"Warum denken wir nicht an die Idee von Bolívar, der von Lima aus zum Kongress über Panamá aufrief. Bolívar sagte weiter, dass Kolumbien mit den angrenzenden Ländern vereint werden müsse. Wir besitzen heute in den Andenländern schon verschiedene Elemente für ein System der Integration. Wir könnten an eine Art Konföderation der Republiken denken, das ist kein Traum, keine Utopie, das ist möglich."
Und deshalb trieb er seine Vision in Lateinamerika voran. Das ALBA-Bündnis ist auf seine Initiative hin entstanden: ein Pakt der wirtschaftlichen und politischen Kooperation mit Kuba, Ecuador, Bolivien, Nicaragua und einigen karibischen Ländern. Es ist gegen den Einfluss der USA in diesem Bereich gerichtet. Chávez hat sich das rund 40 Milliarden Dollar kosten lassen. Allein nach Kuba flossen fast 30 Milliarden. Chávez fühlte sich als Vorkämpfer einer neuen Einheit unter Ausschluss der Vereinigten Staaten.
Mehr als 40 Länder weltweit bedachte er mit Hilfsgeldern und Subventionen im Volumen von geschätzten 82 Milliarden US-Dollar. Und er scheute sich auch nicht, mit dem Iran zu kooperieren und dessen Präsidenten Ahmadinedschad die diplomatischen Türen nach Lateinamerika zu öffnen. Als dieser Venezuela besuchte, um unter anderem ein Landwirtschaftsabkommen zu unterzeichnen, griffen die USA zur leichtesten diplomatischen Waffe und wiesen eine venezolanische Konsulin aus. Auf einer Pressekonferenz kritisierte Achmadinedschad diese Maßnahme, und Chávez fuhr fort:
"Das ist eine weitere Demonstration der Präpotenz dieses lächerlichen Imperiums. Wir werden die treffende Antwort auf diese Pöbelei prüfen, denn sie richtet sich gegen unser Volk, unser Land und unsere Revolution."
Hugo Chavez hatte seine schlechten Beziehungen zu Washington zu einem Markenzeichen gemacht. Sein Regime bezog einen Teil seiner Legitimation aus einer strikt anti-amerikanischen Haltung, die in der lateinamerikanischen Linken tief verwurzelt ist.
Tatsächlich ging Chavez "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" und sein Anti-Amerikanismus Hand in Hand. Der venezolanische Präsident hinterlasse ein zwiespältiges Erbe, so Carl Meacham vom Center for Strategic and International Studies an der Johns Hopkins Universität:
"”Kein Zweifel, seine Persönlichkeit war überlebensgroß. Er hat einige Reformen durchgesetzt, die vielen armen Leuten geholfen haben. Er vertrat die Interessen derer, die vorher nicht repräsentiert gewesen sind in Venezuela. Auf der anderen Seite steht seine autokratische Führung, stehen viele Fragezeichen hinter seiner demokratischen Gesinnung. Er war kein rationaler Akteur in einer kapitalistischen Welt. Und was die Haltung zur Wirtschaft anbelangt, da hinterlässt er eine Spur der Verwüstung.""
Venezuela wies erst am Dienstag noch zwei amerikanische Militärattachés aus. Die Begründung: Sie hätten an einer Destabilisierung des Landes gearbeitet. Der venezolanische Vizepräsident Maduro verstieg sich gar zu der Anklage, die USA hätten Chavez mit Krebs infiziert.
Das Weiße Haus ging auf diese Attacken gar nicht ein. Präsident Obama ließ eine Erklärung veröffentlichen, in der er sich aufgeschlossen zeigt, eine neue, konstruktive Beziehung zu Venezuela zu stiften. Man unterstütze weiterhin das venezolanische Volk. Wörtlich hieß es in der Erklärung:
"Jetzt, da Venezuela ein neues Kapitel in seiner Geschichte beginnt, bleiben die USA den demokratischen Prinzipien, dem Rechtsstaat und dem Respekt vor den Menschenrechten verbunden."
Nicht alle in Washington äußerten sich jedoch so diplomatisch. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses, der Republikaner Ed Royce veröffentlichte nach Chavez´ Tod eine Erklärung, die eher den derzeitigen Stand der Beziehungen wiedergibt:
"Hugo Chavez war ein Tyrann, der sein Volk gezwungen hat, in Angst zu leben. Sein Tod beschädigt die Allianz der linken USA-Gegner in Lateinamerika. Gut, dass dieser Diktator uns verlassen hat.
Venezuela hatte einst eine starke demokratische Tradition und stand den Vereinigten Staaten nahe. Chavez´ Tod ermöglicht neue Wahlen. Es gibt keine Garantie dafür, aber bessere Beziehungen mit diesem wichtigen Land der westlichen Hemisphäre sind jetzt zumindest möglich."
Derzeit unterhalten die beiden Länder zwar diplomatische Beziehungen, aber in überschaubarem Maß. Venezuela hatte den amerikanischen Botschafter 2008 ausgewiesen. Bis heute haben die beiden Länder keine neuen Botschafter ins jeweils andere Land entsandt. Die Hoffnung, mit der damals neuen Obama-Administration und deren Politik der ausgestreckten Hand könne auch eine Verbesserung der beiderseitigen Beziehungen einhergehen, erfüllte sich nicht. Chavez ging bald darauf mit Obama hart ins Gericht.
... er wolle einen Obama des Friedens, aber Obama richte ständig neue Militärbasen in Lateinamerika ein und führe Krieg gegen die Länder Lateinamerikas.
Obama sei eine Schande für sein Volk, so Chavez. Obamas Vorgänger George Bush griff er noch weit polemischer an. Das Verhältnis zur Bush-Administration war vergiftet, nachdem diese im Jahr 2002 vorschnell eine Regierung anerkannt hatte, die gegen Chavez geputscht hatte, sich jedoch nicht an der Macht halten konnte.
"Der Teufel war gestern hier, und ich kann immer noch den Schwefel riechen."
... so Hugo Chavez 2006 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen über George Bush. Das hinderte Chavez jedoch nicht daran, den Großteil des venezolanischen Erdöls in die USA zu verkaufen. 500 amerikanische Firmen sind nach wie vor in Venezuela aktiv.
Das anti-amerikanische Propagandagebaren des Hugo Chavez habe zunehmend dazu gedient, die wahren Probleme des Landes zu verschleiern, so Michael Shifter, Präsident des Forschungsinstituts Inter American Dialogue.
"Er hinterlässt ein Land, das sehr polarisiert ist, und er konnte die Probleme nicht lösen, weil er die Macht in seiner Hand konzentriert hat. Es gab nur eine Person in Venezuela, die Entscheidungen treffen konnte, und das war Hugo Chavez. Doch das funktioniert in unserem Zeitalter nicht. Deshalb hat das Land eine hohe Inflation, eine hohe Kriminalitätsrate, Mangelwirtschaft, Staatsschulden, eine bröckelnde Infrastruktur. Venezuela ist in keiner guten Verfassung. Wer immer jetzt das Ruder übernimmt, der wird es sehr schwer haben."
Die amerikanische Regierung setzt indes auf demokratische Wahlen in Venezuela. Diese Wahlen, so ein Sprecher des US-Außenministeriums, müssten frei und fair sein. Die Obama-Administration scheint einem diplomatischen Neustart gegenüber aufgeschlossen. Die Chance für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Venezuela und den USA, sie besteht.